Herbsttrilogie – Teil 2 – Emotionen
Im Oktober 2023 schilderte ich meine Beschwerden meinem Orthopäden, der nach einer ersten Diagnose eine Schleimbeutelentzündung in meiner rechten Schulter diagnostizierte. Hormonspritzenbehandlungen sollten die Entzündung bekämpfen. Leider hat die Behandlung nicht angeschlagen und die Diagnose meines Orthopäde sollte sich in wenigen Tagen wandeln.
Ein Herbstturm zieht auf
So zog im Oktober 2023 ein emotionaler Herbststurm auf, der in mehrfacher Sicht mental und körperlich Kräfte raubend verlaufen ist. Bis zum ersten Meilenstein war der Weg holprig und mit einigen Höhen und Tiefen gespickt. Aus meinen Aufzeichnungen in jenen Tagen im Oktober und November 2023 kann ich erkennen, dass ich mich mit allen Optionen beschäftigt habe. Sogar das Scheitern mit allen Konsequenzen habe ich durchdacht und hatte diese teilweise in ToDo’s eingetütet. Die bereits vor Jahren vorbereitete Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht wurden ausgegraben und überarbeitet.
Aufgeben war niemals eine Option und suizidale Gedanken spielten niemals eine Rolle. Ganz im Gegenteil. Wir feierten, soweit es möglich war, Silvester im kleinsten Kreis mit den engsten Freunden und Verwandten. Zur Jahreswende gab es für mich nur alkoholfreien Sekt, der nicht wirklich ein kulinarischer Genuss war. Außerdem hätten sich Alkohol und die geschluckten Schmerzmittel nicht vertragen.
Wenige Tage nachdem ich meinem Orthopäden im Oktober 2023 wegen der schmerzhaften Schulterbeschwerden aufsuchte, stellte ich mich erneut vor und holte ich mir eine Überweisung zu einer Computertomographie (CT). Die zweite Computertomographie brachte ein wenig Licht ins Dunkel. Aber diese CT hat neue Fragen aufgeworfen. Die Diagnose lautete jetzt Krebs mit unbekanntem Primärtumor.
Nachdem der Orthopäde versuchte mir die neue Diagnose schonend zu vermitteln, war ich geschockt. Ich hatte Pipi in den Augen und habe erst einmal um Fassung gerungen. Es hat einige Minuten gedauert bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen und formulieren konnte. Nachdem ich die Praxis verlassen hatte und zum Parkplatz lief, dachte ich nur an Renate und Dorian. Wie sollte ich diese deprimierende Ängste schürende Diagnose vermitteln? Renate ahnte wohl schon, das der zeitnahe erneute Besuch des Orthopäden schlechte Neuigkeiten bedeuten könnte. Schnell waren Renate und ich uns über die Tatsache einig, dass wir Dorian erst über die neue Situation aufklären würden, wenn es eine belastbare Diagnose und einen Ausblick und eine Kampfstrategie geben würde.
Die begleitenden Schmerzmittel-Therapie begann bereits im Oktober 2023 mit der ersten Schleimbeutel-Diagnose. Im Laufe des November änderten sich die eingesetzten Schmerzmittel schnell und mit Morphinen und Opiaten haben wir mein Schmerzmonster vertrieben.
Primärtumor suchen
Nach der Diagnose wurde nach einem Primärtumor gesucht und nix gefunden. Schließlich wurde die Ursache in meiner DNA entdeckt, nachdem umfassende Urin-, Blut-Untersuchungen in der UKD bestimmte Botenstoffe und Proteine entdeckt wurden. Die Diagnose MM, im Volksmund auch als Knochenmarkkrebs bezeichnet, war schockierend. Eine passende Therapie mit wirklichen guten Erfolgschancen haben mich ermutigt, den Kampf aufzunehmen und gemeinsam mit meiner „lokalen Regierung“ durchzustehen.
Lessons learned und erstes Zwischenfazit
Mit dem Blick in den Rückspiegel hat sich meine DNS irgendwann vermutlich Anfang der 2020er verändert. Ich habe Körpersignale falsch interpretiert bzw. ignoriert. Von wegen „Männer sind keine Weicheier und Warmduscher…“ und gehen nicht zum Arzt! 😮 Heute denke ich anders und horche sorgfältiger in mich hinein und achte auf meine Körpersignale!
Bei den vielen CT und MRT Untersuchungen wurden alte und frische Rippenfrakturen, Osteolysen in diversen Wirbeln, im Brustbein und in den Schultern entdeckt. Die bildgebenden Tomographien zeigten einen entstandenen relativ großen Flurschaden, der sich über eine längere Zeit entwickelt hatte.
Fazit: Wäre ich doch schon in 2022 zum Orthopäden…
Mein Schmerzmonster
In der Zeit von Oktober 2023 bis Mitte März 2024 haben diverse Schmerzmittel mein Schmerzmonster bekämpft. Um die beginnenden und auftretenden Schmerzen erfassbar zu machen und beschreiben zu können, entwickelte ich meine persönliche symbolische Schmerzmonster-Theorie. Es half mir dabei meinem direkten Umfeld meine Schmerzerlebnisse zu vermitteln. Wie entwickeln sich die Schmerzen, wie stark spüre ich die Schmerzen und wo treten die Schmerzen auf. Teilweise entwickelten sich die Schmerzerlebnisse zu echten Grenzerfahrungen, die kaum noch auszuhalten waren. So war es wichtig, folgende Fragen schnell zu beantworten. Ich war teilweise selbst nicht mehr in der Lage passende Schmerzmittel zu dosieren und war auf Hilfe angewiesen.
Bestrahlung
Ich kann mich noch an eine Situation sehr genau erinnern. Besonders wild war die Situation nach dem ersten Bestrahlungstermin in der Uniklinik Düsseldorf (UKD). Ich zitterte und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, 20-40 Navominsulfon Tropfen auf einen Esslöffel zu träufeln und einzunehmen. Renate half mir in der Verfassung und Situation, indem Sie 20 bis 40 Tropfen Navominsulfon vorbereitete, die ich dann schnellstmöglich mit ein paar Schluck Wasser runterstürzte. Die Tropfen wirkten nach etwa 15 bis 20 Minuten, die ich mit tiefem Durchatmen, Herumlaufen, Weinen und Ablenkung durchhalten musste.
Schließlich haben wir alle folgenden Bestrahlungstermine vorbereitet, indem ich präventiv eine Navominsulfon-Dosis (20-40 Tropfen) geschluckt habe. Damit war das Schmerzmonster ausgesperrt und die Bestrahlungstermine ließen sich ein Stück weit entspannter gestalteten. Die Bestrahlungstermine waren u.a. durch die Kopffixierung auch so schon nicht ganz einfach.
Folgende Fragen zum Schmerzmonster wollte ich ab sofort schnell beantworten und halfen dabei diese Extremschmerzen zu vermeiden und das Schmerzmonster in die Schranken zu weisen.
- Wo schleicht sich das Monster an?
- Wo taucht das Monster auf?
- Ist das Monster noch vor dem Haus oder steht das Monster bereits vor mir?
Bestrahlungsvorbereitung
Das Personal in der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie hat mich bei allen Terminen beruhigend und souverän begleitet. Das war beim Anfertigen der Masken besonders wichtig. Noch wichtiger war die beruhigende und souveräne Positionierung bei allen Bestrahlungsterminen.
Bei den vorbereitenden Untersuchungen wurden drei Bestrahlungszonen auf den Millimeter genau vermessen und definiert. Insgesamt wurden bei mir drei Zonen bestrahlt und diese wurden auf meinem Oberkörper markiert. In dem Zusammenhang spreche ich gern von meiner Strahlenlandkarte. Kombiniert mit dem hochinnovativen Kontrollsystem für die richtige Position, war das einer wichtigsten Faktoren für die erfolgreichen hochdosierten Bestrahlungen.
Jetzt kommt der Knackpunkt mit der Kopf-Fixierung. Klaustrophobie kann sich hier zu einem großen Problem entwickeln. Auch eine juckende Stelle unter der Maske und Erkältungen mit Atembeschwerden und Husten können problematisch werden. Mit anderen Worten: Eine gute Vorbereitung auf die Bestrahlungen war unabdingbar.
Abgesehen von den präventiv geschluckten Schmerzmitteln, konnte profanes Nase putzen und Nasentropfen zur erfolgreichen Behandlung beitragen. Wichtiger war noch die mentale Vorbereitung. Gezieltes Entspannen war angesagt, wenn die Maske aufgesetzt und fixiert wurde. Während der ca. 20 bis 25 minütigen Anwendungen nicht in Panik zu verfallen, muss man erst einmal hinkriegen. Du sollst dich keinen Millimeter bewegen. Bei der dritten oder vierten Sitzung trat ein kleines Krampfproblem in der rechten Wade auf. Das war so extrem, dass wir die Sitzung kurz unterbrechen mussten. Mit dem Nahrungsergänzungsmittel Magnesium haben wir dann die Krampfproblematik in den Griff bekommen.
Soweit zum Thema hochdosierte Strahlentherapie und die Vorbereitungen auf die Sitzungstermine.
Bestrahlungsfolgen
Zum präventiven Umgang mit auftretenden Schmerzen nach den Bestrahlungen hatte ich ja bereits oben unsere Strategie beschrieben. Die Bestrahlungszone Halswirbelkörper (HWK) war lange und intensiv betroffen und war ganz sicher nicht vergnügungssteuerpflichtig. Mit jedem Strahlungstermin wurde das Schlucken schwieriger und meine Geschmackssensoren waren irritiert oder funktionierten nicht mehr. Schluckbeschwerden und kulinarische Defizite haben meine Lebensqualität über viele Wochen erheblich beeinträchtigt und zur Gewichtsreduzierung beigetragen.
Nachfolgend ein Beispiel zu meinen erlebten Geschmackssinn-Irritationen:
Ich habe immer wieder diverse Lieblingsspeisen ausprobiert und wollte damit für mich feststellen inwieweit sich wieder positive kulinarische Genüsse einstellen. So haben wir uns im März auf einen Backofenkäse mit Ciabatta und unserem Lieblingsrotwein gefreut. Die Freude dauerte bei mir nach dem ersten Schluck „Merlot“ eine ganze Sekunde an. Der Geschmackseindruck in der ersten Sekunde war noch OK. Das „Merlot-Geschmackserlebnis“ wandelte sich ab der zweiten Sekunde in Essig-Geschmack und Renate hat mein Rotweinglas geleert. Inzwischen habe ich den Merlot-Versuch noch drei mal wiederholt und heute schmeckt mir unser Lieblingsrotwein Merlot wieder.
Long story short:
Verbruzzelte Geschmackssensoren und die beeinträchtige Schluckmuskulatur erholen sich wieder. Manchmal dauert es ein wenig länger und ein wenig Geduld ist hilfreich. Positiv gesehen haben die Strahlungsfolgen dazu beigetragen, dass ich heute gut 20 Kilogramm weniger auf die Waage wuchte.
Morphine, Opiate und der Entzug
Opiate und Morphine haben sehr gut geholfen, Schmerzen erträglich zu halten bzw. gar nicht erst im Kopf ankommen zu lassen. Die Schmerztherapie bestand aus vielen unterschiedlichen Betäubungsmitteln. So schluckte ich anfangs Tilidin (50er, dann 100er), sehr schnell dann der Umstieg auf Oxycodon 10 mg und 30 mg, ab Januar Hydromorphon 8 mg. Hydromorphon in der 8 mg Dosis war dann die Spitze und half mir sehr gut beim Kampf mit dem Schmerzmonster. Eines war uns auch klar. Jede weitere Morphin-Woche würde die Suchtproblematik vergrößern und den Entzug komplizierter gestalten. Es wäre halt bequem gewesen mit diesen Mitteln und der Sucht zu leben. Das war für mich aber keine Option.
Der betreuende Onkologe sah das Entzugs-Thema recht entspannt und sprach davon, dass es Mittel und Wege geben würde, um die Abhängigkeit langsam und gleitend zu überwinden. Renate und ich wollten uns auf diese Argumentation nicht einlassen. Wir haben sehr genau das Schmerzmonster beobachtet und frühestmöglich seine Abwesenheit genutzt, den Entzug von den Morphinen einzuleiten. Die ersten Oxie (5 mg Dosis) hatte ich am 13. November 2023 geschluckt. Am 10. Februar 2024 haben wir mit der Reduzierung der Morphium Dosis von 8 auf 6 mg begonnen. Am 24. Februar 2024 folgte der nächste Schritt mit einer Reduzierung auf 4 mg. Am 02. März 2024 sind wir bei der 2 mg Dosierung angekommen. Entzugserscheinungen hielten sich in der Zeit in Grenzen und das Schmerzmonster spielte fast keine Rolle mehr. Die Dosierung hat Renate ohne mein Wissen weiter reduziert , indem sie aus der 2 mg Kapsel immer mehr Kügelchen entfernt hat. Unter Entzugserscheinungen litt ich noch bis Anfang April 2024. Heute bin ich „clean“ und nur noch von den Sargnägeln abhängig. Wenn das Schmerzmonster doch noch einmal auftaucht, dann können wir mit den Novalgin-Tropfen reagieren. Diese Tatsache beruhigt mich und meine Medikamentenabhängigkeit ist seit den ersten Apriltagen 2024 Geschichte.
Täglicher Medikamentencocktail
Neben den Schmerzmitteln (Novalgin 20-40 Tropfen bei Bedarf bis zu vier mal täglich) muss ich noch je nach Therapiephase täglich Medikamente (mehr als 10 Tabletten) schlucken und bekomme zusätzlich Spritzen und Infusionen in der Uniklinik Düsseldorf (UKD) verabreicht. Renate bereitet für mich die im Medikamentenplan abgestimmten Tagesrationen gewissenhaft vor.
Der betreuende Prof. Fenk und der koordinierende Onkologe haben mich in eine Studie aufgenommen, die in Zusammenarbeit mit der Uniklinik Heidelberg durchgeführt wird. So profitiere ich von einem Medikament, welches so nicht in Apotheken gekauft werden kann und zum Therapieerfolg beiträgt. Gott sei Dank waren meine Nieren- Leber-Funktionen noch intakt und die geforderten Studien-Voraussetzungen damit erfüllt.
Ziel der Mitte November 2023 gestarteten etwa sechs monatigen in mehreren Phasen verlaufenden Krebstherapie ist ein „Reset“ meiner DNA bzw. der betroffenen Knochenmarkzellen. Mein Knochenmark wird durch eine Stammzellenbehandlung neu angelernt. Inzwischen bin ich Schwerbehinderter und seit November wurden alle mögliche Therapie-Risiken (Zahngesundheit und anderes) soweit möglich ausgeschlossen. In der letzten Phase im Mai/Juni 2024 wird es noch einmal spannend und kritisch.
Ausblick und Zwischenfazit vor der Chemo
Mich erwartet noch eine Hochdosis-Chemotherapie-Phase und ein stationärer Aufenthalt in der UKD. Die Behandlung soll die übrig gebliebenen restlichen Krebsursachen in Nirvana befördern. Mit einer Knochenmarkpunktion (rechte Hüfte) wird der aktuelle Status des Knochenmarks analysiert. Sollte die Bewertung positiv verlaufen, werden in der UKD Stammzellen Anfang Mai 2024 während eines geplanten stationären Aufenthalt gewonnen und eingefroren. Dann wird mit einer Chemotherapie begonnen, der die restliche Krebszellen zerstören soll. Dann ist der Reset meines Immunsystem angestrebt und soll danach mit den eingefrorenen Stammzellen wieder aufgebaut werden.
Im Idealfall wird nach Therapie-Abschluss mein Knochenmark nicht mehr meine Knochen zerstören und das Thema Osteoporose wird Geschichte werden. Ein engmaschiges Monitoring im Nachgang soll den Therapie-Erfolg dann sichern. Soweit unsere Strategie und der Plan für 2024. Mögen noch viele lebenswerte Jahrzehnte folgen.
Das war jetzt der zweite Teil der Trilogie gespickt mit Emotionen und meinen persönlichen Einschätzungen. Im dritten Teil der Trilogie beleuchte ich Aspekte, die anderen Betroffenen beim Kampf und dem Leben mit der Diagnose „Multiples Myelom“ inspirieren könnten. Idealerweise hilft die Trilogie bei der Entwicklung einer eigenen erfolgreichen Strategie, dem Kampf mit dem Schmerzmonster und Bewältigung der emotionalen Berg- und Talfahrten.
Emotionen und „self care“
Renate und ich stellten sich in unserem Leben immer kleineren und größeren Aufgaben. Die Diagnose Hochbegabung unseres Stammhalters Anfang der 2000er Jahre war ganz sicher eine der größten Herausforderung. Die noch größere Herausforderung sollte sich im Sommer 2023 abzeichnen. Während unseres Sommerurlaubs spürte ich schon ungewöhnliche Vorgänge in meinem Oberkörper, die ich anfangs als die üblichen „morbus alter“ Zipperlein eingeordnet hatte.
Die üblichen Reaktionen und Behandlung mit Wärmesalben, Massagen, Wärmepflaster, Thermalbadbesuche und Schonung und Ausruhen halfen nicht mehr. Wenn ich ehrlich zu mir bin, hatte ich schon im Sommer 2022 Veränderungen an meinem oberen Brustbein (Sternum) registriert und verdrängt. Ich hatte gehofft, dass mein Körper damit allein fertig würde. Ich verspürte zu der Zeit keinerlei Schmerzen. 😮
Im Rückspiegel betrachtet, erlitt ich mit großer Wahrscheinlichkeit bereits im Sommer 2022 Rippenfrakturen, die ich mit Ibus zugeschüttet und auskuriert hatte. Ich erinnerte mich daran, dass es einige Wochen gab, wo das Aufstehen und Hinlegen ins Bett nur noch mit rollenden Bewegungen funktionierte. Ich musste mich für mehrere Wochen von meinen favorisierten Schlafpositionen verabschieden. Ich schlafe überwiegend seitlich liegend, das Kopfkissen und den Arm unter dem Kopf liegend. Insgesamt dauerten die Beschwerden ca. einen Monat an. Gerade in den ersten Tagen habe ich tiefes Atmen vermieden. Hustenanfälle und intensives lautes Lachen waren auch nicht vergnügungssteuerpflichtig.
Heute weiß ich, dass im Sommer 2022 mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Ursachen für den Rippenbruch bzw. die Rippenbrüche Osteoporose und/oder wild gewordene Knochenmarkzellen gewesen sind. 😮
Zwischen-Fazit „self care“
Mit anderen Worten: Mit weniger Feigheit und praktiziertem echtem „self care“ wären mir einige Schmerzen und Ängste erspart geblieben.
Der Sensenmann klopft an
Besonders kritisch entwickelte sich die Lage in der ersten Januarwoche 2024. Ich verspürte in meinem Leben erstmals lebensbedrohliche Ängste, weil meine Halswirbel meinen Kopf ohne Stütze nicht mehr halten konnten. Der Orthopäde verschrieb stützende Halskrausen. Schon am zweiten Tag hatte ich die Weiche abgelegt und statt dessen die starre Halskrause vorgezogen.
Bevor ich die Halskrausen getragen habe, hörte ich seit ein paar Tagen immer wieder beunruhigende merkwürdige teilweise knirschende Geräusche. Meine Halswirbel meldeten sich mit einer Akustik, die man nicht wirklich hören will. Die Geräusche hörte ich mal beim Essen bzw. Kauen oder einfach nur wenn ich mal meine Halskrause zur Entlastung lockerte.
Die Nahrungsaufnahme und das Trinken entwickelte sich zur Quälerei und ein erholsamer Schlaf war auch kaum mehr möglich. Wer schon mal über mehr als eine Woche nicht wirklich länger als 30 Minuten schlafen konnte, weiß wie kräftezehrend Schlafdefizite sein können. Immer öfter zuckten meine Gliedmaßen kurz vor dem Übergang in die Schlafphase. Ich schreckte mit zunehmenden Schlafdefizit kurz vor dem Einschlafen auf. Ein deutliches Zeichen dafür, dass ich nervlich fertig war.
Wenn Ärzte nervös werden
Als in der ersten Januarwoche selbst die Orthopäden nervös wurden und sich der koordinierende Onkologe telefonisch am frühen Freitag Abend bei uns meldete, ist uns das Herz in die Hose gerutscht. Auf die Frage „sind Sie noch auf dem Uniklinik-Gelände“ folgte die direkte Anweisung ohne Umweg die Notfall-Ambulanz aufzusuchen und keinesfalls das Gelände der Uniklinik Düsseldorf (UKD) zu verlassen. Mit anderen Worten: Andernfalls wollten die beteiligten Mediziner die Verantwortung bei den neu aufgetretenen Risiken nicht mehr übernehmen.
Uns wurde mit wenigen deutlichen Worten erklärt, dass eine Querschnittslähmung oder ein direkter Exitus drohe, weil neue extreme Schädigungen der ersten Halswirbel entdeckt wurden. Es drohte eine HWS-Fraktur. Der Zusammenbruchs der ersten drei Halswirbel bzw. eine Okzipitalkondylenfraktur bestimmten jetzt das Szenario. Mit anderen Worten: Der Sensenmann war nicht fern und klopfte an die Tür. Im „worst case“ hätten Quetschungen und Verletzungen des Rückenmarks bzw. des Stammhirns mit den o.g. Folgen auftreten können.
Sensenmann oder Halswirbel OP
Am Freitagabend stationär aufgenommen, den ganzen Tag kaum gegessen und dann diese vernichtende Diagnose. Schlimmer geht nimmer und unsere Laune konnte schlechter nicht sein. Von Renate verabschiedete ich mich und ich konnte das Pipi in den Augen kaum noch zurückhalten.
In der Nacht von Freitag auf Samstag hatte ich dann das absolute emotionale all time Tief meines Lebens. Ich musste oft an den Sensenmann denken, der an die Tür klopfte. Inzwischen ging auch meine „lokale Regierung“ auf dem „Zahnfleisch“. Die letzten Wochen waren nicht ohne und die neue Eskalationsstufe zerrte an den Nerven und meine körperliche Verfassung hat auch ein „all time low“ erreicht.
Renate hatte sich in ihrem Job ein stabiles Nervenkostüm und eine sehr stabile Stress-Resistenz erarbeitet. Aber in diesen Tagen hatte Renate bestimmt gerne auf diese Grenzwerterfahrung verzichtet. Wir hatten uns „wie in guten und in schlechten Tagen“ im Oktober 1994 versprochen. Welche Bedeutung dieser Satz mal haben kann, wissen wir beide jetzt ganz genau. Eigentlich wollte ich das nie so genau wissen. Meine „Denke“ über das Leben „wie in guten und in schlechten Tagen“ hat sich verändert.
Schließlich wurde die OP gewissenhaft vorbereitet. Es war mir bewusst, dass es keine Alternative zur OP und einem versteiften Hals geben würde. Trotzdem habe ich gezaudert und erst im Laufe des Sonntags die erforderlichen Unterlagen unterschrieben. Eine aktualisierte Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht habe ich bei der Stationsleitung eingereicht.
Dann stand die Frage im Raume, wie und wann wollen wir unseren Sohn „ins Boot“ holen. Dorian konzentrierte sich in diesen Tagen auf sein Studium und steckte in den letzten Prüfungsvorbereitungen. Einerseits wollten wir Dorian in der Studienphase nicht ablenken und beunruhigen. Auf der anderen Seite war die bevorstehende OP nicht risikolos.
Die jetzt erreichte Eskalationsstufe war nicht ohne und ich stand am Abgrund und ein weiterer Eskalationsschritt …
So telefonierten Renate und ich mit unserem Stammhalter Dorian, der bis dahin von den neuen Diagnosen und den damit verbundenen Risiken nix ahnte.
Emotional war unser Telefonat mit Dorian die schwierigsten Minuten meines Lebens. In meinem Kopf spukte seit Samstagnacht der Sensenmann herum und andererseits wollte ich im Gespräch mit Dorian Optimismus und Zuversicht vermitteln. Schließlich ist es uns in einem etwas längeren Telefonat und durch Renates Gesprächsführung gelungen, Dorian den „Status Quo“ zu vermitteln und die verbundenen Risiken ehrlich und realistisch zu vermitteln. Ich war überrascht, wie „erwachsen“ und gefasst Dorian regiert hat. Er hat uns Zuversicht gespendet und alles Glück der Welt gewünscht.
prognostizierte 4 Stunden Operation
Der nächst freie OP-Termin war am Dienstag 09. Januar 2024 ab 8 Uhr. Prognostiziert waren vier Stunden angewendete ärztliche Kunst in meinem Hals und an meinen Halswirbeln und dies bitte möglichst ohne Nebenwirkungen und ohne Nervenschädigungen. Daraus folgte sechs Stunden vorher keine Flüssigkeiten trinken, nicht rauchen. Insofern war Montag ab 2 Uhr in der Nacht Verzicht angesagt, in der ich sowieso kaum Schlaf gefunden hatte, nix mehr trinken und keine Sargnägel mehr. An Letzeres habe ich mich nicht mehr gehalten, als der Termin nochmals von 8 auf 14 Uhr verschoben werden musste. Die sicherheitshalber angeforderten Blutkonserven waren noch nicht verfügbar, hieß es. Ich informierte Renate, die noch mit 8 Uhr gerechnet hatte und auch „auf heißen Kohlen saß“.
Aufwachen und der lokalen Regierung Entwarnung signalisieren
An die ersten Minuten im Aufwachraum kann ich mich noch gut erinnern, weil ich einen extrem trockenen Mund-Rachenraum verspürte und extrem durstig war. Also keine Engel, keine Wolken und nicht bei Petrus an der Pforte anklopfend, sondern ganz simple lebendige profane Halsbeschwerden. Mir wurde bewusst, dass ich lebe und keine Schmerzen verspürte. Ich war auch verkabelt und sah die gelegten Zugänge an meinen Händen. Den transurethral verlegten Katheter spürte ich noch nicht. Soweit ich mich erinnern kann, konnte ich endlich gegen 19:40 Uhr Renate Entwarnung signalisieren. Ich liege nicht auf der „Intensivstation“ und werde gerade vom Aufwachraum auf die Station verlegt.
Erst als Renate mich noch am Abend besuchte und meinen Zustand begutachtete, wurde mir klar, dass ich mit dem Schlauch in „meinem besten Stück“ 😉 ein wenig leben muss. Die OP hatte mich sehr geschafft. Ich war glücklich zu leben und der Sensenmann entfernte sich wieder. So bin ich erleichtert recht schnell eingeschlafen und konnte endlich wieder eine Nacht komplett durchschlafen. Renate freute sich auch auf das heimische Bett und wollte sich am Mittwochvormittag melden.
Erleichterung, Optimismus und gewonnene Zuversicht bestimmten von nun ab wieder unsere Gedanken…
Das Schlucken und Ernähren
Das ziehen des Katheter erfolgte am nächsten Tag. Der Genuss des ersten postoperativen Sargnagels und das Entfernen des Nikotinpflasters war schon am ersten postoperativen Tag, dem Mittwoch möglich, indem mich Renate beim Verlassen des Krankenbettes und Aufstehen gestützt hat. Ein AOK-Chopper war auch schnell organisiert, der den ersten kleinen Ausflug in die sonnige Düsseldorfer Kälte ermöglichte. Am Donnerstag hat Renate mir den Rolator aus der Platanenstr. an das Krankenbett gebracht. Den Rolator hatten wir damals für Ihre Nachbereitung der Halux Valgus Fuss OPs beschafft. Für mich war der Rolator ein Stück gewonnene Unabhängigkeit und gut für die schnelle Genesung. Die morgendliche ärztliche Visite hat am Donnerstag nicht schlecht gestaunt, als ich auf der Bettkante sitzend scherzend fragte, wann ich entlassen werde und wann ich nach Hause könne.
Die Nikotinausflüge sorgten für gute Kreislaufwerte und eine gesunde Mobilität. Nicht so gut funktionierte mein Hals, wenn es um die Nahrungsaufnahme ging. Gut, die Strahlentherapie hatte mir ja schon erhebliche Probleme bereitet und die Speiseröhre und alle Geschmacksnerven verbrutzelt. Das Trinken war nach den Bestrahlungen schon eine Quälerei. Die OP hat diese Beschwerden noch verstärkt. Wasser-Eis, kalter Tee und Yoghurt-Getränke waren in den ersten Tagen meine Favoriten. Die Krankenhausverpflegung war wirklich OK, aber der Transport in den Magen weniger. Ich habe mehrfach meine Ration und das Tablet nicht angerührt und dadurch insgesamt einige Pfunde verloren. Insgesamt verlor ich gut 20 Kilogramm Gewicht, die ich nicht vermisse.
Inzwischen waren wir in der 18. KW 2024 angekommen, die Schluckbeschwerden sind Geschichte, zwei Kilogramm Gewicht habe ich wieder zugelegt und meine Geschmackssensoren sind nicht mehr beeinträchtigt. Unser geliebter Merlot Rotwein ist auch für mich wieder ein kulinarischer Genuss und mit Zuversicht sehen wir die schwarz-weiß-karierte Zielflagge. 😉
In diesem Sinne auf einem guten Weg mit einer erfolgreichen Genesungs-Strategie herzlichst
Loeben
P.S. Ohne meine „lokale Regierung“ Renate hätte ich diesen Weg und diese Strategie nur mit sehr viel mehr Aufwand gestemmt und ein Scheitern war in Sichtweite!